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20151107-001049
Eine Kurzgeschichte von Günter Dollhäubl

Dort wo die so genannte Strasse dann endgültig zu Ende ist, dreht man das Auto um, und sagt sich ‚das war wohl nichts’, oder man lässt es in einer der Wochenendhütten der Finnen aus Oulo stehen, trägt den Kanadier in den nahe gelegenen See, ladet Proviant und Ausrüstung ins Boot und begibt sich auf eine Abenteuerreise.

Ja ein Abenteuer ist es wahrlich. Schlägt man eine Karte von Finnland auf, findet man den Oulojärvi recht schnell, obwohl Finnland, das Land der 1000 Seen genannt wird. In Wirklichkeit sind es aber mehrere 100.000. Ziemlich zentral in Mittelfinnland gelegen ist dieser See dank seiner Größe auf jeder Karte, auch mit dem größten Maßstab leicht zu finden. Er liegt mitten im finnischen Waldgürtel und ist mit vielen Inseln übersäht. Auch gibt es gute Angelmöglichkeiten, und im August ist es noch immer recht warm. Manchmal bis an die dreißig Grad. Also ein idealer Paddelsee. Nicht ganz. Erstens gibt es keine Infrastruktur dort, zweitens kann er bei Wind recht böse werden, drittens ist die Anreise alles andere als einfach, und last but not least, ist er eine Brutstätte für Myriaden von Mücken. Also doch nur etwas für Abenteurer.

Es ist schon wieder ein paar Jahre her als ich mit meinen Freunden Hermann und Roman mit einem geborgten Kanu an einem schönen Augusttag in See stach. Der Ausrüster hatte uns samt Kanu am See abgesetzt und wollte uns in 10 Tagen dort auch wieder abholen. Mit einem 540er Alukanadier war dies zu dritt kein Problem, und auch das Gepäck konnte leicht untergebracht werden. Wir waren guter Dinge und paddelten vor uns hin. Hin und wider legten wir eine Pause ein und landeten irgendwo an. Bald hatten wir gelernt nach kleinen Hügeln Ausschau zu halten, da dies die einzigen trockenen Stellen in der näheren Umgebung des Sees waren. Die meist flachen Ufer des riesigen Oulojärvi sind alle vollkommen versumpft. Dies war zwar kein großes Problem, denn mit kurzen Hosen und Kampfschlapfen ausgerüstet machte uns dies kaum was aus. Dies sollte sich jedoch schon am ersten Abend ändern. Bereits am späten Nachmittag tauchten die ersten Geschwader der Moskitos auf. Schneller als wir je gedacht hatten waren wir in den langen Hosen und in unseren dicken Natojacken. Als wir am Abend unser Lager auf einer kleinen Insel aufgeschlagen hatten, mussten wir sogar die Hose in die Stiefel stecken, da die lästigen Tiere sogar durch Froteesocken stachen. Trotzdem verbrachten wir einen netten Abend am Lagerfeuer. Der Rauch des feuchten Holzes schützte uns ein wenig vor den unangenehmen Kreaturen, sodass wir sogar im Freien übernachten konnten. Am nächsten Tag ging es weiter in Richtung Osten als langsam Regen einsetzte. Wir suchten uns einen Lagerplatz auf einer Lichtung am Festland, etwa 50 Meter vom Ufer entfernt. Ein mächtiges Feuer ließ den Regen nicht so schlimm erscheinen, und als es kurz vor Mitternacht dann wirklich dunkel wurde, krochen wir ins Zelt.

Am nächsten Morgen hatten wir Dauerregen. An ein Weiterpaddeln war nicht zu denken. Wir holten das Boot heran und lehnten es an zwei Bäume kieloben an. Darunter ließ sich ganz gut sitzen, und man konnte die Natur von einer trockenen Stelle aus beobachten. Da es den ganzen Tag nicht zu regnen aufhörte wollten wir auch nicht weiterfahren. Auch tags darauf regnete es. Da der Proviant schön langsam zu Ende ging, paddelten wir ein paar Stunden hinaus um zu fischen. Wir fingen auch ein paar schöne Forellen. Leider hatten wir aber nicht bedacht, dass der Dauerregen das Holz dermaßen durchweicht hat, dass es ohne Papier fast unmöglich war ein Feuer zu entzünden. Für ein großes Essen reichte auch die Hitze des kleinen Kochers nicht aus. Und rohe Forelle ist nur etwas für Japaner. Wir überlegten also was die beste Lösung für unser Problem sein könnte. Bestenfalls waren wir in zwei Tagen zurück, da der Wind vom Westen, also dem Meer her blies. Und sollten wir es doch schaffen, hatten wir dort auch keinen fahrbaren Untersatz. Nach dem Studium der Karte beschlossen wir folgendes: Einer von uns sollte cirka drei Kilometer geradewegs nach Norden gehen. Dort zog sich die Bahnlinie von Oulo kommend quer durch das Land nach Kontiomäki. Wir wussten, dass es sich dabei um eine kleine Lokallinie handelte, und wir nahmen an, dass der Zug wahrscheinlich stoppen würde, falls der Lokführer eine winkende Person am Gleis sieht. Man konnte dann nach Oulo oder Kontiomäki fahren, dort Lebensmittel kaufen, und wieder zurückkommen.

Pech oder Schicksal? Das Los fiel auf mich. Also zog ich mein durchnässtes Regengewand an, hängte mir den Rucksack um und machte mich auf den Weg. Aber nicht bevor ich noch auf eine höhere Birke geklettert war, und dort mein rotes Halstuch aufzuhängen. Eine meiner besten Ideen wie sich später noch herausstellen sollte. Ich wanderte also los und hatte mir innerhalb von 5 Minuten die Bergstiefel mit Wasser gefüllt. Dem Kompass folgend ging ich schnurgerade nach Norden. Dies war sehr mühsam, da ich praktisch durch Urwald klettern musste. Der Boden war größtenteils Sumpfgebiet und öfters musste ich auf allen Vieren kriechen. Aber nach langen zwei Stunden in denen ich mehrmals die Richtigkeit des Kompasses angezweifelt hatte erreichte ich den Bahndamm. Ich entschied mich auf den Schienen in Richtung Westen, also Oulo zu gehen. Wahrscheinlich weil mir die in der Ferne verschwimmende Gerade nach Kontiomäki so trostlos erschien. Nun ging es viel schneller. Bei jedem Schritt spritzte das Wasser aus den Schuhen. So wanderte ich in meinen Gedanken versunken dahin. Bald wurde mir richtiggehend schwindlig. Es ist nicht einfach immer nur von Schwelle zu Schwelle zu steigen. Aber da sah ich vor mir ein Gebäude am Bahndamm. Als ich näher kam erkannte ich eine Haltestelle. Es gab da sogar eine Telefonzelle und eine Zufahrtsstrasse. Aber keine Häuser. Ich zog Schuhe und Socken aus und leerte sie aus. So froh ich war die Haltestelle gefunden zu haben, so schlecht begann ich mich zu fühlen, als ich in meinen nassen Sachen zu frieren begann. Doch ich hatte Glück; ein Zug kündigte sich mit einem Pfiff an. Ich winkte als ich ihn kommen sah und er begann zu bremsen. Ich freute mich wie ein Kind als ich in den geheizten Waggon stieg. Ich zahlte beim Schaffner, zog mein nasses Gewand aus und hängte es über die Heizungen. Außer mir waren gerade noch drei Leute im Waggon. Ich hatte genug Zeit um zu trocknen. Der Zug bummelte Oulo entgegen.

Als wir endlich dort eintrafen waren meine Hose und meine Socken soweit trocken, dass ich zumindest nicht mehr fror. Im Laufschritt ging ich zu einem kleinen Lebensmittelgeschäft und kaufte die notwendigsten Sachen. Ich stopfte sie in den Rucksack und hörte gerade noch, dass die Wettervorhersage nicht sonderlich gut war. Vom Bahnhof rief ich den Outfitter an, dass wir eventuell früher zurückkommen würden, was er gut fand. Er meinte sogar, er würde uns auch von der Bahnstation abholen, falls wir das Boot dort hinbringen könnten. Dann wieder rein in den Zug und schon ging es wieder zurück. Als ich an der Station den Zug verließ regnete es nach wie vor. Aber ich war ziemlich trocken und marschierte los.

Ich war guter Dinge und freute mich meine Schätze den zurückgebliebnen Kameraden zu zeigen. Dummerweise hatte ich die Stelle nicht markiert an der ich an den Damm gekommen war, aber ich hoffte meine Spur wieder zu entdecken. Ich ging so ca. eine halbe Stunde am Damm entlang und glaubte dann in der Nähe der Stelle zu sein, an der ich zuvor die Bahn erreicht hatte. Da ich aber keine Fußabdrücke sah und ich auf keinen Fall zu weit gehen wollte, entschied ich mich wieder in den Sumpf zu steigen. Geradewegs in Richtung Süden. Diesmal hatte ich etwas Glück. Es hatte zu regnen aufgehört und die Sicht war recht gut. Also ging ich von Hügel zu Hügel, kletterte über umgefallene Bäume und erreichte nach einer guten Stunde den See. Oder ich glaubte dass er es sei. Ich stellte mich ans Ufer und fing an zu brüllen. Doch es kam keine Antwort. Also beschloss ich am Ufer entlang nach links in Richtung Osten zu gehen. Irgendwann musste ich ja auf das Camp stoßen. Es begann wieder zu regnen und hier war wieder tiefes Sumpfgebiet. Schwitzend und keuchend stapfte ich in die vermutete Richtung während das Wasser von allen Seiten auf mich einprasselte. Nach einer weiteren halben Stunde wurde ich verzweifelt. Immer und immer wieder rief ich in den Wald hinein, aber keine Antwort. Die Sicht war schlecht. Grau starrten mich die Birken an. Grau und undurchdringlich. Obwohl ich die grünen Birken mit ihren weißen Stämmchen liebe; an diesem Tage waren sie mir unheimlich. Grau und tot. Was wäre, wenn ich in die falsche Richtung gegangen war? Dann würde ich nie auf die anderen stoßen. Hier würde mich auch keiner suchen. Was sollte ich machen, wenn ich mich verletzte und nicht mehr gehen konnte? Ich war verzweifelt und die Tränen kamen mir aus den Augen. Aber ich wollte nicht umdrehen, und die ganze Strecke zurück kriechen. Ich war dafür zu müde und vollkommen nass. Also biss ich die Zähne zusammen und stapfte weiter. Nach einer Weile sah ich aber die Sinnlosigkeit meines Beharrens ein. Mir war klar, ich musste zurück. Entweder fand ich die anderen in den nächsten zwei Stunden, oder ich musste wieder zurück zur Bahn. Nun schwitzte ich und mir war nicht kalt. Aber sobald ich aufhörte zu gehen würde mir sehr schnell sehr kalt werden. Ich verfluchte mich, dass ich zu Fuß gegangen war, und noch dazu alleine. Warum waren wir nicht alle im Boot zurück gepaddelt. Aber insgeheim wusste ich, dass wir unser Boot samt Ausrüstung wahrscheinlich schon in den See gesetzt hätten.

Ich weiß nicht wie lange ich so vor mich hin grübelte und auf den See gestarrt hatte, bis ich beschloss zurück zu gehen. Zuvor wollte ich aber noch auf die nächste Birke klettern und schauen ob vielleicht irgendwo Rauch zu erkennen war. Ich ging also die 100 Meter zu einer höheren Birke, schnallte den Rucksack ab und rief noch einmal. Dann kletterte ich hinauf. Doch es gab nichts zu sehen. Nur graues Wasser, und auch der Wald verlief sich in ein bleiernes Grau. Ich wollte gerade wieder runter steigen, als sich mein Blick zurück richtete. Da war kaum 20 Meter landeinwärts eine andere hohe Birke im Wald auf der mein rotes Tuch wehte. Trotz des Farbkontrastes fiel mir dies nur dadurch auf, da mein Blick zufällig genau dorthin gerichtet war. Wieder schossen mir die Tränen in die Augen. Diesmal war ich überwältigt vor Glück. Drei Minuten später stand ich im Lager. Meine Kameraden saßen unter dem grauen Kanu und staunten nicht schlecht als ich plötzlich vor ihnen stand. Ich verstand nun auch, warum sie mein Rufen nicht hören konnten, denn das Prasseln des Regens auf das Alukanu machte im Bootskörper einen höllischen Lärm.

Wie wir dann zwei Tage später bei Dauerregen das beladene Boot über Land zur Bahn gezogen hatten, und sich Roman dabei den Vorfuß gebrochen hatte, ist eine andere Geschichte, die ich ein anderes Mal erzählen möchte.

Jetzt nur soweit. Damals habe ich begriffen, dass man bei einer solchen Tour niemals vergessen sollte, sich genau zu überlegen welche Ausrüstung notwendig ist, und was man immer bei sich haben sollte. Kompass und Handy sind heutzutage kein Problem mehr und hin und wider lohnt sich auch die Anschaffung eines etwas teueren GPS Gerätes. Zumindest im August am Oulojärvi.

-- Dezember 2003, GuenterDollhaeubl