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20151106-223023

Eine Erzählung von Günter Dollhäubl

... und wieder schaue ich auf die Uhr. Seit dem letzten Mal sind nicht mehr als 10 Minuten vergangen. Aber ich stelle auch fest, dass wir bereits mehr als 1 Stunde durch diese trostlose Landschaft paddeln. Noch vor einem Monat hätte ich mir nicht vorstellen können, dass es so etwas gibt. Hunderte Quadratkilometer große Flächen, die abgeholzt oder abgebrannt wurden, nur um wirtschaftliche Interessen zu befriedigen. Nur um ein paar reiche Großgrundbesitzer, oder Minengesellschaften noch reicher zu machen. Ein Exodus zum zuschauen. Die optische Bankrotterklärung der Menschheit. Eine niederträchtige Art unseren Nachkommen die Lebensgrundlage – nämlich den Sauerstoff der Luft – zu nehmen. Links und rechts vom Flussufer, soweit das Auge reicht, nichts als grüne Hügel, baumlos, aber vom Buschwerk wieder zugewachsen. Zwischendurch, wie graue Schiffsmasten ragen tausende verkohlte Baumstämme in den meist wolkenverhangenen Himmel. Dazwischen rote Narben. Hier hat die Erosion ihre Arbeit aufgenommen. Die dünne Humusschicht wurde weggewaschen und die rote Erde kommt zum Vorschein. Erschreckend. Erschreckend, weil so sinnlos. Anscheinend wurde nur der erste Schritt getan, und dann hat der Betreiber seine Meinung geändert. Oder dies ist Weidefläche, die vom Kanu aus nicht als solche zu erkennen ist. Eine von vielen. Abgeholzt für die Viehzucht. Ein Wirtschaftszweig der sich nicht rentiert, den der Staat subventionieren muss, damit der unterdurchschnittliche Ertrag dann exportiert werden kann. Alles in allem aber ein Zeugnis dafür, was die Ökonomie von der grünen Lunge unseres Planeten übrig lässt.

Am Anfang war es noch ungewohnt, und trotz der vielen Literatur die wir darüber gelesen hatten, sehr beklemmend. Nun jedoch, haben wir uns an diesen Anblick gewöhnt. Ja, er stört uns nicht einmal mehr, wäre es nicht so eintönig für das Auge. Ja, richtig. Seit mehr als einer Stunde paddeln wir in unseren Booten durch das träg fließende okafarbene Wasser des Rio Uraricoera. Meine Schultern tun genau so weh, wie die geschwollenen Handknöcheln und die Blasen auf den Handflächen. Morgen soll diese Tortur jedoch zu Ende gehen. Üblicherweise streifen unsere Gedanken in diesen langweiligen Abschnitten zurück zu unseren Familien. Zu Frau und Kinder. Doch auch diese Gedanken werden zunehmend langweiliger, da uns nichts Neues mehr einfällt. Da es jetzt der vorletzte Tag unserer Tour ist, wäre es nun an der Zeit, diese Reise im Gedanken noch einmal vorbei ziehen zu lassen.

Über Lissabon und Brasilia waren wir nach Manaus mitten in den brasilianischen Dschungel geflogen. Dort wurden wir trotz Vorbereitung von der unglaublich feucht-tropischen Luft überrascht und fast aus den Bastschuhen gehoben. Außer eine Fahrt runter zum gewaltigen Amazonas und einen Blick auf die berühmte Oper, in der schon der große Caruso seine Arien geschmettert hatte, unternahmen wir nichts. Es war uns auch egal, ob die große Vergangenheit des Zentrums des Kautschuk-Booms, seine Geschichte in all den schönen, aber verkommenen Hausfassaden widerspiegelte oder nicht. Wir warteten ganz einfach in der kühlen Hotel-Lobby auf den Weiterflug nach Boa Vista, dem Hauptort der nördlichen Provinz Roraima. Uns wurde schnell klar, dass diese dicke, heiße Luft unser ständiger Begleiter werden würde, und kein klimatisiertes Hotel mehr zur Verfügung stehen würde. Nach ein paar Bier an der Bar warfen wir uns in unsere Betten, denn wir mussten am nächsten Tag wieder zeitig aufstehen. Um 8:30 waren wir wieder am Flughafen und konnten zuschauen, wie unsere Taschen in den Rumpf der sechssitzigen Cessna verstaut wurden. Dann kamen wir vier daran und schließlich der Pilot. Die Motoren heulten auf und schon waren wir in der Luft. Der anfängliche Respekt vor dem Fliegen in einer solch kleinen Maschine verflog rasch. Wir drängten uns an die Seitenfenster und drückten unsere Nasen an die Scheiben. Unter uns, das endlose Grün des brasilianischen Dschungels. Nur unterbrochen von silbrig glänzenden, stark mäandernden Flüssen. Ein wunderbares Bild, wären da nicht von Zeit zu Zeit riesige Quadrate von gerodeten Flächen aufgetaucht. Leicht zu erkennen in ihrer rotgelblichen Farbe. Manche von ihnen bis zu 20, 30 km lang. Brandrodung um das Land nutzbar zu machen. Von Plantagen und Weiden war nichts zu sehen, was vielleicht daran liegen mag, dass eine Weide in Brasilien nicht wie eine Weide in Europa aussieht, und Orangen- oder Bananenplantagen von oben wie normaler Regenwald erscheinen.

Müde, total verschwitzt, aber froh diesen Flug über die grüne Hölle heil überstanden zu haben, landeten wir in Boa Vista. Die Rollbahn war sogar asphaltiert, und Dutzende Kleinflugzeuge bescheinigten, dass wir hier auf einem Hauptumschlagsplatz waren. Wir fuhren mit einem Taxi ins Hotel. Duschen und dann zwei kühle Heineken an der Bar – früher, als wir jünger waren, hätte die Reihenfolge genau umgekehrt ausgesehen. So warteten meine drei Begleiter und ich auf das Eintreffen unseres Führers und Dolmetschers. Wir hatten unser erstes Etappenziel erreicht, meine Freunde Mario und Wolfi, dessen Schwager Herbert und ich. Wir sind zwar sehr unterschiedliche Charaktere, aber die Liebe zum Kanu fahren verbindet uns mit einem starken Band. Wir hatten alle schon einschlägige Erfahrung mit Tropenreisen gemacht, außerdem viel über Land und Leute gelesen, und uns gut auf dieses Abenteuer vorbereitet. Jeder auf seine Weise, doch alle fieberten wir dieser Bootsfahrt entgegen. Der phlegmatische Mario brummt zufrieden vor sich hin, und nervt alle anderen mit Erlebnissen, die wir alle schon hundert Mal gehört haben. Der Wolfi der vor Aufregung einfach nicht ruhig sitzen kann, und dauernd behauptet, die Ruhe in Person zu sein, und dann noch der introvertierte Herbert, der sich kaum an Unterhaltungen beteiligt, aber dann wenn es darauf ankommt, weiß wie man an eine Sache ran geht. Zusammen sind wir ein recht starkes Team.

Bald schon tauchte unser Führer auf; das Reisebüro hatte gute Arbeit geleistet. Carlos stellte sich in Englisch vor und erklärte uns die weitere Vorgangsweise. Dann verschwand er wieder. Wir plauderten noch eine ganze Weile bis wir uns doch etwas aufgeregt auf unsere Zimmer zurückzogen. Die letzte Nacht in der Kühle und in einem Bett. Trotzdem schliefen wir alle schlecht. Muss wohl an der Aufregung gelegen haben. Als wir am Morgen doch etwas zerknittert in die Halle kamen, warteten unsere Reisebegleiter bereits. Carlos unser Führer stellte uns den Koch Gonzal vor. Ein ewig grinsender und sehr lustiger Zeitgenosse. Der dritte Begleiter sollte erst am Start zu uns stoßen. Mit dem Land Rover fuhren wir schnell aus Boa Vista hinaus und rauf auf die Interstate BR147 in Richtung Norden. Dort warteten die Vorberge der Serra Pacaraima auf uns. Eine stundenlange heiße Fahrt lag vor uns.

An der Straße waren etliche kleine Ansiedlungen entstanden, welche das ewig gleich aussehende Grün des Regenwaldes, der sich bis auf fünf Meter links und rechts der Interstate herangewachsen hatte, unterbricht. Hin und wider kamen wir auch zu diesen riesigen Kahlschlägen – manchmal 10 bis 20 km lang. Hier hat sich das Raubtier Mensch in die grüne Hölle gearbeitet, um edle Hölzer und reiche Bodenschätze zu heben. Ja, die Provinz Roraima an der Grenze zu Venezuela ist bekannt für ihren Reichtum an Bauxit, Mangan, Magnesit, Eisenerz und leider auch Gold. Dies führte in den Achtzigerjahren zu einem Goldrausch, dem viele Menschen, Tiere und vor allem der Urwald zum Opfer fiel. Es ist erschreckend wie schnell der Urwald nach wie vor dezimiert wird. Waren vor 30 Jahren cirka 5 Millionen Quadratkilometer Urwald auf unserer Erde, so sind jetzt nur noch 1,3 Millionen übrig geblieben. Und alleine in Brasilien werden es von Jahr zu Jahr um 200000 Quadratkilometer weniger. Für uns gebildete Menschen ist es ein Leichtes auszurechnen, wann der letzte Wald verschwunden sein wird. Dies wird aber auch das Ende unserer Tage sein. Sterben jetzt im brasilianischen Urwald tagtäglich an die Hundert Arten aus, wird sich dies in den nächsten Jahren verschlimmern, und irgendwann ist auch die Spezies Mensch an der Reihe. Mit Klimakatastrophen begann es, mit neuen Krankheiten wird es weitergehen, und schließlich wird der fehlende Sauerstoff in unserer Luft den Anfang vom Ende einleiten. Davon redet man in unserer fortschrittsorientierten Welt aber nicht. Noch nicht.

Nach elf Stunden Fahrt erreichen wir endlich unser Tagesziel. Die kleine Stadt Vila Tepequem am Rio Uraricoa, einem Nebenfluss des Rio Branca. Von hier aus wollten wir den Fluss acht Tage lang hinunterpaddeln, bis er bei der Stadt Uraricoera die Interstate BR174 wieder kreuzt. Zusammen mit Carlos, Gonzal, und Coaxl, dem Helfer den die Outfitter Company zur Verfügung gestellt hatte, wollten wir mit drei gemieteten Kanus ein Dschungelabenteuer erleben, und vielleicht auch noch richtige Indianer sehen. Aber in erster Linie waren wir aufgebrochen um unserer Paddelleidenschaft nachzugehen, und natürlich auch einiges über den Regenwald und seine Bewohner zu lernen.

Die Kanus sind nicht mit unseren Alu oder Karbonschalenkanus zu vergleichen. Diese hier sind etwas länger und breiter, und auf Gewicht und Stromförmigkeit wird überhaupt kein Wert gelegt. Dafür sind sie höher, wesentlich stabiler und man sitzt bequemer. Und nicht zu vergessen, wir müssen reichlich Gepäck mitführen. Und dafür ist Platz genug.

Schnell waren wir eingebootet. Ich versuchte mich als Frontmann für Carlos. Mario und Herbert steuerten das zweite Kanu, und Wolfi und Coaxl versuchten unseren Koch sicher den Fluss runter zu bringen. 10 Minuten später war Vila Tepequem hinter einer Biegung verschwunden und wir trieben den recht schnell fließenden Uraricoa hinunter. Der Wald reichte nicht nur bis ans Ufer heran, an vielen Stellen konnte man nicht einmal erkennen, wo der Wald aufhörte und der Fluss anfing. Dementsprechend gab es auch keine natürlichen Anlandestellen. Auch Sandbänke gab es kaum. Also machten wir unsere Pausen in erster Linie im Kehrwasser der zahlreichen Nebenarme, oder wir landeten an den Stegen von vereinzelten Siedlungen an. Der Fluss selbst war nicht allzu schwierig. Er hatte ein rasches Gerinne, sehr viele Kurven, viel Wasser, aber er war breit genug, um niemals in Bedrängnis zu kommen. Ja wir hatten eine gute Wahl getroffen. Natürlich gab es in Brasilien 1000 andere befahrbare Flüsse, viele von ihnen weit interessanter, und trotzdem leichter zu erreichen. Aber es gab drei Gründe die für den Rio Uraricoa sprachen. Erstens konnten wir über eine brasilianische Touristenorganisation einen Outfitter ausmachen, zweitens war der Fluss laut Dokumentation durchgehend mit offenen Canadiern befahrbar, und drittens durchfloss er das Gebiet des Stammes der Yamaburi. Dieser Indianerstamm war erst in den 70er Jahren entdeckt worden. Spanische Missionare waren den Fluss hinaufgefahren und haben die Mission Santo Agostinho errichtet. Die Yamaburi haben sich mit den Patres angefreundet und sind im Laufe der Jahre aus dem Urwald gekommen. Sie haben eine große Siedlung rund um die Mission gegründet. Im Nachhinein gesehen ein Fehler. Mitte der 80er Jahre haben Besucher die Masern eingeschleppt. Innerhalb von drei Monaten starben cirka 30 Prozent der geschätzten 9000 Yamaburi, die in kleinen Verbänden in Einheit mit der Natur im Wald lebten. Kaum gekannt und selten gesehen. Kaum hatten sie sich von dieser Seuche erholt, raffte eine eingeschleppte Grippewelle viele von ihnen dahin. Jene die bei den Missionen lebten konnte geholfen werden, aber für alle im Urwald lebenden Gruppen, die sich ansteckten, kam jede Hilfe zu spät. Als nächste Seuche brachten die Weißen ihnen die Tuberkulose, und immer wieder kam die Grippe zurück. Zum Jahrhundertwechsel dürfte die Volksgruppe kaum mehr als 800 Personen ausmachen, und früher oder später werden sie ganz aussterben. Sicher nicht durch die Schuld der Missionen. Im Gegenteil, die Patres versuchten alles, um ihr Leben zu verlängern. Doch unsere Gesellschaft lässt ihnen keinen Freiraum, und ihre gewohnte Umgebung wird von Jahr zu Jahr kleiner. Trotz des Aufschreis der Weltöffentlichkeit, trotz der Protestaktionen von Greenpeace und ähnlichen Organisationen, wird die grüne Lunge unseres Globusses nach wie vor radikal verkleinert. Zu viele Leute sehen das Geld, welches sie durch Tropenhölzer, Obst- und Kautschukplantagen, sowie Bergwerken verdienen können. Alles nur zum Wohle der Bevölkerung und zum Fortschritt von Brasilien. Unter diesem Motto versteckt werden jedes Jahr Urwälder von der dreifachen Größe Österreichs rücksichtslos abgebrannt. Tiere, Pflanzen und Menschen verlieren nicht nur den gewohnten Lebensraum sondern kommen dabei ganz einfach um.

Eine genaue Beschreibung dieser Flussfahrt ist wahrscheinlich nicht sehr packend, denn der Fluss änderte sich in den ersten drei Tagen kaum. Andererseits waren die ersten drei Tage die tollsten. Der Rio Uraricoa floss ruhig aber schnell dahin und wir versuchten immer an der langsameren Innenseite der Mäander zu paddeln um nicht auf Baumstämme oder ähnliche Hindernisse aufzulaufen und zu kentern. Wir vermieden auch tunlichst in Nebenarme zu paddeln um nicht die Orientierung zu verlieren. Dies wäre uns aber ohne die Hilfe von Carlos kaum gelungen. Coaxl erklärte uns, dass wir keine Angst vor Piranhas oder Krokodilen haben brauchten, da diese in diesen Gewässern nicht anzutreffen sind. Jedoch ist es wichtig nicht in das Unterholz der Außenufer getragen zu werden, da man sich zwischen den Wurzeln der im Wasser stehenden Bäume leicht verheddern könnte. Dies kann zum kentern führen, oder man treibt in eine Position aus der man sich nur schwer wieder befreien kann. Noch dazu haben nesselnde Pflanzen, sowie Schlangen und Spinnen hier ihr Revier. Kentert man, konnte man in diesem Dickicht schnell verloren gehen, da es dank der Fließgeschwindigkeit kaum möglich ist, mit dem Paddelboot eine Suchaktion zu starten. Aber es passierte uns zum Glück nichts. Die drei vier Stromschnellen brachten wir auch ohne Probleme hinter uns. Dabei haben uns aber die breiten und trägen Boote schon sehr geholfen. Einmal fuhren wir auch durch eine cirka 25 km lange Schlucht mit steilen Hängen an beiden Seiten. Hier mussten wir besonders aufpassen, da es weder eine Anlandestelle noch Inseln gab, wo man sich im Falle des Kenterns hinretten könnte. In den erdigen Felsformationen nisteten viele verschiedene Vogelarten. Es war interessant sie zu beobachten. Man könnte ein eigenes Buch nur über die Vielfalt an Vogelarten, die alleine nur wir beobachtet hatten, schreiben. Außer den bunten Trompetenvögeln, den lauten Papageien, und den dickschnäbeligen Tukans kannten wir kaum welche. Zumindest konnte uns Carlos aber sagen, dass es sich bei ein paar Reihern um Rosalöffler handelte, und dass ein anderer großer Vogel Stinkfasan genannt wird, und dass eine Kranichart dort Sonnenrallen heißt. Coaxl sagte uns die indianischen Namen aller anderen, aber sie blieben nicht in unserer Erinnerung hängen. Bestenfalls erinnern wir uns noch an die vielen verschiedenen Kolibriarten, die teilweise wie größere Hummelschwärme an uns vorbei flogen. Neben den Vögeln, Schmetterlingen und Insekten hatten wir zugegebenermaßen kaum Tiere gesehen. Nur zwei dreimal sahen wir eine Gruppe von Wasserschweinen am Ufer. Aber als wir näher kamen waren sie schon wieder weg. In der Dämmerung hörten wir auch verschiedene Affenarten, ohne jedoch einen von ihnen gesehen zu haben. Wir sahen nur die sich bewegenden Äste und hörten die Schreie und mussten Carlos glauben, dass es sich dabei um Totenkopfäffchen handelte. Coaxl zeigte uns auch zweimal ein Faultier, doch das ungeschulte Auge des Großstadtmenschen konnte auch diese großen Tiere in den Baumkronen nicht ausmachen. Natürlich wollten wir alle einen Jaguar zu Gesicht bekommen, aber bald resignierten wir, und verstanden, dass wir eine solche Katze nicht einmal sehen würden, wenn sie direkt über uns auf einem Ast liegen würde. Zu dicht ist das Blättermeer, und zu ungeübt ist unser Blick. Carlos zeigte uns auch ein paar Mal eine Anakonda, aber ehrlich gesagt, habe ich sie nie wirklich gesehen. Dafür sahen wir mehrere Wasserschlangen, und dies war nicht nur für den „Schlangenfreund“ Mario ein Grund ein Bad im Fluss tunlichst zu vermeiden. Das Wasser des Rio Uraricoa war sehr dunkel, aber doch klar. Der Fluss führt dunkles Sediment mit sich. Auch das ermutigte nicht unbedingt ein Bad nach einer schweißtreibenden Tagesetappe zu wagen. Aber an jenen Stellen, an denen sich die Sonnenstrahlen durch das Blätterdach des Waldes kämpfen konnten, und das Wasser des Flusses silbern schimmern ließ, dort konnten wir auch das Unterwasserleben beobachten. Neben diversem Grünzeug sahen wir auch viele Fische. Ein nennenswertes Erlebnis war unter anderem das Auftauchen eines Arapaima. Wir lernten, dass dies der größte Fisch in dieser Gegend sei, und bis 200 kg schwer werden konnte. Der Fisch der sich eine Weile rund um unsere Boote tummelte, war ca. 2 Meter lang, und hatte, laut Carlos an die 100 kg. Also nur ein Halbwüchsiger, aber für mich groß wie ein U-Boot. Irgendwann verlor er die Lust uns zu folgen, und das war gut so, denn Gonzal hatte sich gerade einen Speer mit Widerhacken geschnitzt. Am gleichen Tag sahen wir auch mehrere Anrau-Schildkröten die sich fast schwerelos den Fluss hinab tragen ließen. Mario und Herbert hatten das Glück einen Kaiman zu sehen, doch bis sie uns das mitteilen konnten, waren wir schon um die nächste Biegung gepaddelt.

Wir übernachteten immer an Niederlassungen. Dort gab es frisches Wasser und es war nicht notwendig unter freien Himmel zu schlafen, stets der Gefahr ausgesetzt, dass giftige Schlangen oder Spinnen sich dir nähern, oder sonstige Gefahren des Dschungels auf dich warten. Bei diesen Niederlassungen handelt es sich zumeist um kleine Missionen oder Handelsstationen. Die Farmer, Kautschukpflücker, Minenarbeiter, Biologen und Glücksritter müssen irgendwo ihre Vorräte ergänzen, und dies passiert zumeist irgendwo am Fluss. Außerdem können am Wasserspiegel der Flüsse Schwimmflugzeuge landen. Bei diesen Niederlassungen trafen wir aber auch auf kleine Gruppen von Indianern. Darunter befanden sich auch Yamaburi, die sich aber durch nichts von ihren Kollegen von anderen Stämmen unterschieden. Vielleicht benutzen sie ein wenig mehr rote Farbe für ihre Bemalungen, und auch ihre Blasrohre und Pfeile waren rot gefärbt, aber sie sahen weder freundlicher noch wilder als die Vertreter anderer Stämme aus. Damit war uns die Illusion echte, steinzeitliche Kopfjäger zu treffen genommen. Die Indianer leben in so genannten Shabonos. Ein Shabono ist ein kleines Dorf auf einer Lichtung im Dschungel. In einem solchen Dorf lebt eine Sippe von 50 bis maximal 250 Leuten, geführt von einem Tapa, einen Stammeseltesten. Sie leben in Langhütten. Darinnen befindet sich nichts, außer etliche Hängematten und eine Feuerstelle. Ihre persönlichen Habseeligkeiten beschränken sich auf Kochgeschirr, Schmuck und Waffen. Kleidung und andere Sachen unserer Zivilisation brauchen sie nicht. Doch ist es uns Weißen gelungen, Bedürfnisse in ihnen zu wecken. Zumindest besitzen einige von ihnen Uhren, Zahnbürsten, Hüte und Radios. Ob sie es brauchen können, sei dahin gestellt. Die Arbeiten der Bewohner eines Shabonos sind genau aufgeteilt. Die Jagd und der Krieg ist klarerweise Männersache, aber auch die Flecht- und Knüpfarbeiten werden von Männern ausgeführt. Die Frauen sammeln essbare Früchte und Pflanzen, wie Beeren und Mehlbananen, sowie Bau- und Knüpfmaterial. Außerdem bestellen sie die Felder, auf denen in erster Linie Maniok, Taro und andere Gemüsearten gezogen werden. Auch haben wir Tabakpflanzen gesehen. Die nährstoffarme Regenwalderde erlaubt aber nur wenig Feldbau, und daher ziehen die Sippen nach vier bis fünf Jahren wieder weiter, um irgendwo anders ein Shabono zu gründen. Wie schon gesagt, sind die Amazonasstämme dem Untergang geweiht, und wir hatten das Glück noch einige von ihnen gesehen zu haben. Aber mit der rasanten Zerstörung ihres natürlichen Lebensraumes, den eingeschleppten Krankheiten und Lastern, sind schon jetzt nur mehr 150.000 der vormals geschätzten 5 Millionen Indios am Leben.

In den Ansiedlungen gibt es auch immer ein größeres Gemeinschaftshaus, das für Versammlungen gedacht ist. Dort konnten wir unsere Hängematten aufhängen, und waren so vor den Tropenregen geschützt. Ein Moskitonetz über dem Körper gebreitet, verhindert die schmerzhaften Stiche der Myriaden von Mücken. Allein über diese Mücken gäbe es noch etliche Geschichten zu erzählen. Eine andere Geschichte ist das Problem mit den Hängematten. Wer schon einmal versucht hat in dieser Art von Liegestätte zu schlafen, weiß von was ich rede. Die ersten Stunden war es eigentlich nur ein verkrampfter Versuch die Balance zu halten, was recht gut gelang. Jedoch sobald du einnickst und dein Körper im Schlaf eine Bewegung macht, findest du dich unterhalb deiner Matte wieder. Und das Spiel fängt von vorne an. Nach einer Weile hatten wir aber den Trick heraußen. Man musste sich einfach diagonal auf die Matte legen. Beine unten rechts, also Oberkörper oben links – dann funktioniert es auch so leidlich. Ein anderes Problem ist natürlich die Hitze. Wir konnten uns nicht ausziehen, ansonsten das fliegende Getier sich über uns hermachte, und sehr oft war es in den stickigen Unterkünften viel heißer als im Freien. Dazu kommen noch die Ausdünstungen der Schlafgesellen und die diversen Schlafgeräusche, die anscheinend in allen Kulturen dieser Erde vorkommen. Trotzdem haben wir so leidlich geschlafen. Wahrscheinlich eine Folge unserer Erschöpfung, die so gesehen auch etwas Gutes an sich hatte.

Gonzal tat seine Arbeit recht gut. Obwohl böse Zungen behaupten, dass er als Paddler wichtiger war, als in seiner eigentlichen Rolle als Koch. Kochen war auch nicht wirklich notwendig, sondern vielmehr das Beschaffen von Essbarem. Man musste erst einmal wissen was man wo bekommt, und dann wie man es zubereitet. In der Hitze braucht man kaum schwere Nahrungsmittel, und so setzte sich unser Menü in erster Linie aus Früchten und diversen Gemüsegerichten zusammen. Dazu gab es am offenen Feuer geröstetes Fladenbrot, aus Maniokmehl zubereitet. Nudeln gibt es auch in Brasilien, und man kann sie leicht mitnehmen. Auch Fisch und Wild kam hin und wieder auf den Teller. Oft waren wir nicht sicher was es war, aber wenn wir fragten, fand man kein englisches Wort dafür. Dies war wahrscheinlich auch besser so.

Es war am Vormittag des dritten Tages wir waren bereits eine Stunde unterwegs, als Carlos in einen toten Seitenarm steuerte, wo wir uns ein paar Minuten ausrasteten, bevor eine etwas schwierigere Passage auf uns zukam. Wir dümpelten in dieser Bucht umher und unterhielten uns. Rein zufällig schaute ich ans Ufer, welches ca. 6 Meter entfernt war. Nichts besonderes, nur dichter Wald mit vielen Büschen in diversen Grün- und Brauntönen. Und auf einmal sah ich etwas, und ich fühlte wie sich die Härchen auf meinen Armen aufrichteten. Direkt vor mir am Ufer schauten mich zwei Augenpaare an. Aber außer den beiden Augen konnte ich nichts erkennen, obwohl es auch im Schatten nicht dunkel war. Ich konzentrierte mich ganz auf die Augen und entdeckte dann die Umrisse des Kopfes, und in weiterer Folge auch der Körper, die in ihrer Farbe vollkommen identisch mit dem Gehölz ihrer Umgebung zu sein schienen. Die beiden Augenpaare schauten mich an und ich sie. Da ich aber keine Regung ihrerseits erkennen konnte und sie nicht gefährlich ausschauten, wendete ich mich meinen Kameraden zu und machte sie auf unsere Besucher aufmerksam. Als ich den Kopf ein paar Sekunden später wieder ihnen zu drehte, konnte ich sie nicht mehr finden. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob sie lautlos hinter dem Blättermeer verschwunden waren, oder einfach nur ihre Augen geschlossen hatten. Auf alle Fälle sah das Ufer überall gleich grün aus. Carlos und Coaxl, mit dem ich heute im Boot saß, glaubten mir. Carlos warf seine halb gerauchte Zigarette über Bord und meinte ganz nüchtern, dass es an der Zeit war weiter zu paddeln. Ab da war mir klar, dass wir ständig beobachtet werden konnten ohne es zu bemerken, und dass wir einem Pfeil aus einem Blasrohr eigentlich überhaupt nichts entgegensetzen könnten. Da würde auch die Büchse von Coaxl und der Revolver von Carlos, den er stets griffbereit im Hosenbund trug, nicht mehr helfen. Später erfuhr ich, dass ich das Glück hatte, Yamaburi zu sehen, die von der Zivilisation noch nicht ganz entwurzelt wurden.

Nach drei Tagen erreichten wir den Rio Uraricoera, einem Hauptfluss der Provinz Roraima. Der okafarbene Fluss war viel breiter als der Rio Uraricoa, aber auch etwas träger. Im ersten Moment waren wir enttäuscht, dass wir in drei Tagen schon mehr als die Hälfte unserer Tour hinter uns gebracht hatten. Aber schon am nächsten Tag verstanden wir, warum für die restlichen Kilometer 5 Tage geplant waren. Der langsam fließende Fluss erfordert viel Menschenkraft um weiter zu kommen. Die heiße Luft saugte alle Flüssigkeit aus dem Körper, doch dank des leichten Windes war man zwar nass, aber nicht völlig eingeweicht. Leider kam der Wind vom Osten, also uns entgegen. So haben wir uns Kilometer um Kilometer den Fluss hinunter gearbeitet. Die Landschaft war flacher geworden, und der breite Fluss erlaubte uns manchmal auch einen Blick in die Ferne. Die Ufer waren zwar genauso dicht bewaldet, doch kamen wir nun öfter zu Kahlschlägen. Am Anfang interessant, aber je länger man sie sah, desto bedrückender wirkten sie auf uns. Und schließlich verstummten auch die aufmunternden Zurufe, die langen Gespräche, und die abenteuerlichen Erzählungen von Carlos. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, und bald wünschten wir uns auch, dass die Schinderei ein Ende nehmen würde. Ja, Kanu fahren kann manchmal auch sehr, sehr hart sein.

Doch kaum wurde die Landschaft wieder interessanter besserte sich auch unsere Stimmung, und bei den regelmäßig auftretenden Wolkenbrüchen freuten wir uns wie Kinder und genossen die leichte Abkühlung.

Noch zwei Tage dann werden wir wieder in der Zivilisation sein. Ich freue mich schon irgendwie darauf. Gar nicht so sehr auf das erste kühle Bier, vielmehr auf ein ebenes Bett in einem klimatisierten Raum. Und natürlich auf die Rückkehr zu meiner Familie. Aber auch an die vielen Geschichten die ich meinen Freunden erzählen konnte. Von Uraricoera werden wir mit dem Land Rover nach Boa Vista zurück fahren. Dort werden wir uns noch zwei Tage erholen – soweit dies dort möglich ist, und dann nach Manaus zurückfliegen. Von dort geht es noch am gleichen Abend nach Lissabon....

Carlos Ruf hat mich aus meinen Überlegungen gerissen. Er zeigt nach vorne. Ja er hatte Recht. Da vorne war wieder Wald zu sehen. Man glaubt ja gar nicht, was für ein gutes Gefühl es ist, wieder in die grüne Hölle zurückzukehren.....

-- GuenterDollhaeubl, 4.2003